Nach dem letzten Blog „Sehe ich einen Menschen – oder ein Problem“ kam von einigen Lesenden die Frage: „ja, und wie reagiere ich denn richtig, wenn mir jemand so begegnet wie der aussteigende Mann?“ oder „Wie schaffe ich es denn, von ihm nicht angesteckt zu werden?“ oder “wie reagierst denn du?”

Danke für die Möglichkeit, dieses Alltagsbeispiel zu vertiefen. In diesem Blog also: „wie reagierte ich darauf?“

Nachdem die Passagiere ausgestiegen sind und die Frau beginnt den Kinderwagen in den Wagon zu schieben, höre ich jemanden schnellen Schrittes die Treppe herunterkommen. Ich denke “oh, schon wieder jemand, der nicht gemerkt hat, dass er aussteigen wollte” und ich spüre etwas Genervtes in mir.

Da biegt der Mann um die Ecke und ich sehe sein Tempo und sein Gesicht. Ich denke … nein ich fühle … Stress. Mein Organismus arbeitet spürbar schneller. In mir wird es eng. Dann erkenne ich, wie ich denke “wow – der hat ja wirklich fast Panik” und in mir wird etwas weiter, die Enge beginnt zu vergehen und ein Bedauern fängt an zu erscheinen.

Als der Mann den Kopf senkt und sich sein Blick verfinstert trete ich schon beiseite und ich bin mir klar: mit dem Menschen mag ich jetzt nicht zusammenstossen. Zu unstabil bin ich und in mir ist grad alles zu aufgewirbelt, als dass ich einen physischen Zusammenstoss leicht hinnehmen könnte. Ich denke “Achtung!”.

Er bleibt mit seinem Fuss am Kinderwagen hängen und strauchelt. In mir denkt es “logisch!” und gleichzeitig “Wenn jetzt nur nichts passiert” und ich merke, wie mein Organismus wieder auf Alarm umstellt, meine Körperspannung zunimmt. Gleichzeitig ist da ein Impuls in mir zu helfen: Ihn zu stützen, am Fallen zu hindern und gleichzeitig den Kinderwagen am umkippen zu hindern. Noch bevor ich einen bewussten Gedanken habe, spüre ich eine Lähmung, Hilflosigkeit. Da erkenne ich den Gedanken “Wo anfangen? Kann doch nur eines auf’s Mal!” Und ich entdecke wie ich sowohl den Mann als auch die Frau in diesem Moment beginne als Problem zu betrachten: “Geht mich ja nicht’s an – schaut ihr doch besser auf euch – mir doch egal” Ich werde schlagartig traurig. Ich erkenne wie ich mich und meine menschliche Absicht mit den Gedanken verdränge und “mich von der Entmenschlichung” anstecken lasse. Meine Lähmung weicht, ich schätze ab, dass er nicht hinfällt und mache Schritte auf die mir näherstehende Frau zu.

Er flucht und ich habe ein schales Lächeln in mir beim Gedanken “das war ja zu erwarten” und ein tiefes Bedauern kommt in mir hoch. Gleichzeitig ist da eine Anspannung und ich denke “Hoffentlich gibt sie nicht zurück”.

Sie “gibt zurück”. Ich spüre eine Ohnmacht in mir, Trauer und Hoffnungslosigkeit. Denke “Denen sollte ich Visitenkarten verteilen”. Der eigene Zynismus lässt mich innerlich seufzen und ich spüre ein Verlangen in mir nach mehr Wohlwollen, Miteinander, Menschlichkeit. Fühle mich etwas matt und durchgewalkt. 

Ich steige hinter der Frau ein und gehe behutsam, langsam an ihr vorbei und lächle sie ganz ruhig an. Auf meinem Gesicht ist mein Gefühl von Bedauern und Trauer zu sehen. Ich erkenne in ihrem Blick, dass der Ärger ebenfalls dem Bedauern weicht.

Nach aussen hin habe ich NICHT reagiert. Nicht im Sinne, dass ich etwas bestimmtes getan oder gesagt hätte. In mir habe ich sehr detailliert meine Reaktionen wahrgenommen: meine Gedanken bewusst beobachtet, meinen Gefühlen Beachtung geschenkt. Ich bin mir sehr dankbar, dass ich bei mir blieb – und damit letztlich der Frau zu einer Entspannung mit verhalf: Ihr Ärger wich und Bedauern wurde sichtbar. Stellt euch vor, wir hätten gemeinsam über “den blöden Kerl” abgelästert – eine Allianz auf Adrenalin! So gesehen habe ich in einer Weise reagiert, die im Aussen zur Menschlichkeit beitrug.

Ob ich das nächste Mal auch so reagiere? Wie Martin Buber sagte: Jede Situation, und sei sie noch so ähnlich, ist wie ein neugeborenes Kind: einmalig. Und es ist ruhige Gelassenheit in mir bei diesem Gedanken, denn mein stetes Training in GFK hat mich in eine Haltung gebracht, die mich ähnlich achtsam und in Menschlichkeit reagieren lässt. Davor hätte ich mich dem Mann sicherlich noch in den Weg gestellt um ihm zu zeigen das es sein Problem ist, wenn er nicht rechtzeitig aussteigt, und hätte mich danach noch eine ganze Weile geärgert …

Wie wäre es, heute deine Gedanken und Gefühle zu beobachten und vielleicht festzustellen, wie bewusst du reagierst oder “es einfach mit dir reagiert”?