Ich warte auf die S-Bahn, in meiner Nähe eine Frau mit Kinderwagen ebenfalls.

Der Zug fährt ein, die Türen öffnen sich und Menschen steigen aus. Als der Weg frei ist, schauen wir, die Frau mit Kinderwagen und ich, uns an und ich deute ihr, dass ich ihr gerne den Vortritt lasse. Wir lächeln wortlos, sie nickt mit dem Kopf und schiebt die vorderen Räder des Kinderwagens in den Bahnwagen. 

Da kommt ein Mann die Treppe herunter, offenbar bemerkend, dass er hätte aussteigen wollen, denn er ist schnell unterwegs. Er biegt um die Ecke um auszusteigen, … hemmt seinen Schritt, schaut die Frau an, lächelt und sagt „jetzt hätte ich sie beinahe umgerannt, bedaure. Einen schönen Tag wünsche ich Ihnen“. Sie lächelt zurück und ruft ihm über die Schulter „Kein Problem, danke, ihnen auch einen schönen Tag!“ nach. Ich steige hinter ihr ein, die Türen schliessen sich und der Zug fährt ab.

Wie wundervoll, wenn sich Menschen begegnen!

Ich habe etwas geschummelt. Die Situation war leicht anders. Nämlich:

Er biegt um die Ecke um auszusteigen, sieht die Frau mit dem Kinderwagen im Eingang stehen und sein Blick und das ganze Gesicht verfinstern sich augenblicklich. Er wird noch schneller, senkt den Kopf und bleibt beim Heraushasten prompt mit seinem Fuss an einem Rad des Kinderwagens hängen. Sein Tempo und seine Körpervorlage lassen ihn einige Schritte lang beinahe Hinfallen. Er ruft „Verdammt, können Sie nicht aufpassen?!“ Die Frau wird daraufhin schlagartig rot im Gesicht, ihre Augen reisst sie weit auf und sie schreit ihm nach „wenn sie so spät aussteigen!“. Ich steige hinter ihr ein, die Türen schliessen sich und der Zug fährt ab.

Wie bedauerlich. Da hätten sich zwei Menschen begegnen können. Doch offenbar sah der Herr nur ein Hindernis, ein Problem. Seine Reaktion war dementsprechend „entmenschlicht“. Tragisch, wie sehr eine solche Haltung oder Einstellung ansteckend wirkt: Die zuvor noch lächelnde Frau ist sofort am gleichen Ort und sieht auch keinen Menschen, nur ein Problem. Beide sind auf sich ihr Recht haben gerichtet. Menschliches miteinander – Fehlanzeige innert Millisekunden!

Mache doch heute mal den Selbstversuch: wie begegnest du den Menschen? Als was siehst du sie?

Leider noch nicht Teil der Grundausbildung in unserer Gesellschaft, doch ein menschenwürdigeres, gegenseitig erfreuendes Miteinander ist lern- und trainierbar.